Sprachauffälligkeiten
sind ein sehr augenscheinliches Merkmal von Kindern und Jugendlichen, die ausbleibende oder auffällige Sprache oft das erste eindeutige Zeichen, dass in der
Entwicklung des Kindes etwas nicht stimmt.
Der Sprachbereich ist bei Autismus so markant, dass er zu einem zentralen Thema innerhalb der Literatur und Forschung wurde. RUTTER, ein britischer Kinderpsychiater, betrachtete Ende der 70er und
Anfang der 80er Jahre Autismus als Folge eines sprachlich-kognitiven Defizits, auch andere Autoren sahen das Sprachproblem als eine der Voraussetzungen autistischer Verhaltensweisen.
Heute hält man die Sprachauffälligkeiten zwar für eine offensichtliche Symptomatik betrachtet diese jedoch nicht mehr als (Mit-)Ursache von Autismus, sondern als Folge von anderen, grundlegenden
Auffälligkeiten.
Bei diesem Thema muss man verschiedene Unterscheidungen vornehmen:
Autistische Kinder und Jugendliche haben Probleme mit der Bedeutung von Sprache. DEMYER erwähnt z.B., dass bei der Hälfte der von ihr untersuchten autistischen Kinder die ersten Worte keine spezielle Bedeutung hatten!
Ein bekanntes Phänomen, das bei Autismus zu beobachten ist, ist die Ich-Du- Vertauschung (auch mein-dein, mir-dir usw.), d. h. die Pronomenumkehr: Früher hat man diese gerne dahingehend
interpretiert, dass ein Mangel an Ich-Gefühl oder Ich-Stärke vorliege. Heute halten viele Autoren es für ein Spracherwerbsproblem: Die Pronomenvertauschung kann als Folge der Echolalie verstanden
werden ("Hast du Hunger" anstatt "Ich habe Hunger") oder im Zusammenhang mit der Schwierigkeit der Abstraktion. Nach WENDELER erkennen autistische Kinder/Jugendliche nicht die Sprecherabhängigkeit
der Pronomen, sondern behandeln sie wie Namen.
Bemerkenswerterweise müssen sich beide Theorien nicht ausschließen: BARRON schreibt in seiner Autobiographie, dass er Ermahnungen und Bestrafungen in der 3. Person wiedergab und sich dadurch Distanz
verschaffen konnte: "Sean, du weißt doch, dass du das nicht tun sollst." (SEAN BARRON, 1992, S. 161)
Die Sprache von autistischen Menschen wurde in der Literatur bisher folgendermaßen beschrieben: Meist werden nur einfache Bedürfnisse geäußert. Es treten enorme Schwierigkeiten auf der abstrakten
Ebene auf, z. B. fällt die Beantwortung von W-Fragen schwer. Hier besonders Warum - Fragen. Auch das Ja und das Nein werden unter Schwierigkeiten erworben, auf einer höheren Ebene das Konzept der
Zeit, andere abstrakte Begriffe wie Ehre, Moral natürlich ebenso.
Diese Schwierigkeiten lassen sich als Analogie sehen zu den diagnostischen Aspekten Abwesenheit von phantasievollen Aktivitäten wie Rollenspiele, Phantasie-Figuren oder Tiere oder der Abwesenheit von
Geschichten mit phantasievollem Gehalt. Erkennbar ist dieses Defizit am Spiel von autistischen Kindern.
Autistische Kinder zeigen kaum symbolisches Spiel (z. B. im Spiel eine Puppe oder einen Gegenstand als lebendig betrachten).
So wie das Verständnis von abstrakten Begriffen schwierig ist, so ist es für autistische Menschen schwer, übertragene Bedeutungen zu verstehen, wie sie bei idiomatischen Wendungen vorkommen, bei
Redewendungen und Sprichwörtern. Zunächst wird jede Aussage wortwörtlich verstanden!
Unsere Alltagssprache bietet sehr viele Wendungen, deren Bedeutung man versteht, wenn man sich von den Worten selbst etwas löst: Das schwarze Schaf in einer Familie ist jemand, der aus dem Rahmen
fällt.
Menschen mit Autismus müssen die Bedeutungen, die beim konventionellen Sprachgebrauch hinter solchen Aussagen stecken, mühsam lernen.
Bereits KANNER hat darauf hingewiesen, dass manchmal scheinbar sinn-und zusammenhanglose Äußerungen autistischer Menschen zu entschlüsseln sind. Die Aussagen haben metaphorischen Charakter, sie
werden aus ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang entnommen und in einen anderen übertragen. Dort ist dann der ursprüngliche Inhalt gemeint.
Ein Kind kann z. B. aus dem Dialog "Wollen Sie ein Brot?" - "Geben Sie mir eines!", dieses
"Geben Sie mir eines!" als Ja-Antwort abspeichern.
Wird es später gefragt, ob es auf das Klo müsse, antwortet es vielleicht mit "geben Sie mir eines".
KANNER (1946, zitiert aus CLAUDIA Büttner) beschreibt ein sehr kreatives Beispiel: Immer, wenn die Eltern des 4-jährigen autistischen Jungen Jay ihm nicht glaubten, nannte er sich Blum. Irgendwann
las Jay den Eltern den Werbespruch, "Blum sagt die Wahrheit" ("Blum tells the truth") vor. Da wurde den Eltern klar, dass Jay mit dem Namen "Blum" ausdrücken wollte, dass er die Wahrheit sagte!
Es kommt oft vor, dass Szenen aus Werbesendungen aufgegriffen werden und Bedeutungsübertragungen stattfinden.
Berücksichtigt man solche Möglichkeiten, dann entstehen vielleicht ganz neue Betrachtungsweisen und Bemühungen in der Interaktion von Bezugspersonen mit autistischen Menschen.
Eine Variante der metaphorischen Ausdrücke stellen paraphrasische Äußerungen, Umschreibungen, dar. Autistische Menschen benutzen oft Umschreibungen, wenn es darum geht, Gefühle auszudrücken.
Weinen kann z. B. mit "Salzwasser kommt aus den Augen" umschrieben sein. Auch können ganz alltägliche Gegenstände eine Paraphrasierung erhalten: Teekessel wird zu Mach-eine-Tasse-Tee, Hammer zu
Schlag-es-hinein.
In der Therapie- und Beratungsstelle betreuten wir ein Mädchen, das nannte Seifenblasen "da fliegen die". Beim ersten Mal kommentierte die Therapeutin das Fliegen der Seifenblasen mit "da fliegen die
Seifenblasen".
Neologismen sind Wortneuschöpfungen. Diese findet man sehr oft sowohl im Sprechen als auch im Schreiben bei autistischen Menschen. BlRGER SELLIN schreibt z. B.:
"ich will kein inmich sein". Ein uns bekannter autistischer Junge kreierte unter .Anwendung grammatikalischer Regeln das Wort "ferienlich": "Ich möchte mich ferienlich fühlen."
Es gibt auch vollkommene Neuschöpfungen, neue Lautkreationen für bekannte Gegenstände (z. B. Eta für Mutter) oder wiederum die Benennung eines Gegenstandes nach der Situation. Z. B. wird ein Flugzeug
Amerika genannt, weil der erste Flug nach Amerika ging.
Dazu lassen sich viele Beispiele anführen. Es handelt sich hier um einen Bereich von Autismus, der sprachinteressierte Menschen zumindest aufhorchen lässt, wenn nicht gar fesselt.
Manchmal ist der von autistischen Menschen beschrittene (Um-)Weg in der Kommunikation noch unkonventioneller: Es kann auch über Lieder und Melodien kommuniziert werden. Zusammenhänge können dann
ähnlich sein, wie bereits beschrieben: Es wird eventuell auf Situationen verwiesen, in denen das Lied vorkam oder es geht um Inhalte des Textes.
Die Sprache der sprechenden autistischen Menschen ist immer sehr direkt und unverblümt - es gibt keine diplomatischen Äußerungen oder Notlügen. Es wird i. d. R. nicht auf die Angemessenheit einer
Aussage in der sozialen Situation geachtet, weil die Fähigkeit dazu fehlt.
Neben dieser Unangemessenheit innerhalb des sozialen Kontextes gibt es auch eine inhaltliche Unangemessenheit: Die Themen, über die gesprochen wird oder geschrieben wird, können vorzugsweise aus dem
stereotyp bevorzugten Bereich, ein Kind kann z. B. aus dem Urlaub Über die Waschmaschine der Ferienwohnung schreiben.
Zum Abschluss dieses Beitrages soll noch einmal auf den wichtigen Unterschied zwischen der Sprache der sprechenden Autisten und der schreibenden Autisten hingewiesen werden - hier polarisiert
betrachtet, da manche sich in beiden Bereichen bewegen.
Erstaunlicherweise erhielten wir in den 90-er Jahren gerade von den stummen autistischen Menschen über die gestützte Kommunikation eine Fülle von "Sprachmaterial", das gar nicht so zur bisherigen
Charakterisierung von "autistischer Sprache" passt.
Und wir haben von den Betroffenen selbst Rückmeldungen erhalten über die Schwierigkeiten beim Spracherwerb: DIETMAR ZÖLLER beschreibt in seinem Beitrag (s.o.) die Probleme im Wahrnehmungsbereich, in
der Artikulation, außerdem den Aufbau des Wortschatzes, den Zusammenhang zum Denken: Er denkt über das Medium Sprache.
In der Regel ist deshalb eine Sprachförderung auch eine Förderung für das Denken! (Denken muss jedoch nicht immer über Sprache ablaufen, es gibt auch die Möglichkeit, bildhaft zu denken, wie dies
deutlich TEMPLE GRANDlN beschreibt.). Bei DIETMAR ZÖLLER liegen die Schwierigkeiten heute im Bereich der Artikulation, d. h. in der mundmotorischen Ansteuerung.
Demgegenüber betont BIRGER SELLIN die Angst, wenn es um das Sprechen geht. Frappierenderweise hat er als Jugendlicher einmal einen einzigen Satz geäußert - quasi "aus dem Nichts".
Andere (z. B. SEAN BARRON) vermitteln uns, dass sie lange nicht erkannten, dass Sprache zur Verständigung eingesetzt werden kann!
Andererseits wissen wir, dass viele autistische Menschen ein passives Sprachverständnis haben, es ist ihnen demnach bekannt, dass es Begriffe für Dinge, Eigenschaften usw. gibt.
Es sind viele Hürden, die die Betroffenen nehmen müssen. Das gilt aber auch für die Bezugs- und Betreuungspersonen: Mit zunehmender Erkenntnislage sind wir angehalten, bei Äußerungen immer nach einem
Sinn zu suchen und, was die Anbahnung von Kommunikation anbelangt, nach der richtigen Hilfestellung.
"Wörter kann ich mir wie Grandin oft nur aus dem Kontext erschließen, da ich sie nicht richtig höre. Als kleines Kind hat dies wahrscheinlich dazu beigetragen, dass ich mich trotz Jahre andauernden
logopädischen Unterrichts immer noch so schwer tat, richtig zu sprechen. Ich habe viele Wörter nur fragmenthaft verstanden und entsprechend nur „so ungefähr“ wiedergeben können."
"Mir ist klar, dass ich fast meine ganze Kindheit hindurch meine Mutter einfach nicht hörte. Ihre Bemühungen, geduldig und lieb zu mir zu sein, drangen einfach nicht bis zu mir durch. Ich schenkte
ihren Wörtern genauso wenig Aufmerksamkeit wie dem Geräusch eines Wagens, der die Straße entlangfuhr. Ihre Stimme war lediglich Hintergrundgeräusch. Nur wenn sie anfing zu brüllen oder zu schreien,
drang sie zu mir durch und holte mich für kurze Zeit aus meinem Schneckenhaus."
"Die Unterhaltungen zwischen uns können sich wegen der auditiven Verarbeitungsprobleme, unter denen ich mitunter leide, schwierig gestalten. Neil sagt etwas zu mir, woraufhin ich dann nicke oder „Ja“
oder „Okay“ sage, aber später wird mir klar, dass ich gar nicht verstanden habe, was er gesagt hat. Für ihn kann es sehr frustrierend sein, dass er mir etwas Wichtiges erklärt oder berichtet und dann
hinterher feststellen muss, dass ich es gar nicht mitgekriegt habe. Das Problem ist, dass mir nicht bewusst ist, dass ich nicht höre, was er sagt; oft höre ich Bruchstücke von einem Satz, die mein
Gehirn dann automatisch zusammenzieht und auf bestimmte Weise deutet. Doch da ich ziemlich häufig wichtige Schlüsselwörter überhöre, bekomme ich den wahren Sinn des Gesagten gar nicht mit."
"Das Leben im Autismus ist eine miserable Vorbereitung für das Leben in einer Welt ohne Autismus. Die Höflichkeit hat viele Näpfchen aufgestellt, in die man treten kann. Autisten sind Meister darin,
keines auszulassen."
"Die Sprache hat für eine autistische Person eine andere Bedeutung als für Nichtautisten. Sie ist im Allgemeinen eher rezeptiv als expressiv. Ich verstehe, was von anderen gesagt wird, buchstäblich. Mein Gehirn ist nicht in der Lage, dunkle, feine Nuancen der Sprache zu verstehen. Für mich haben gewisse Wörter eine eigene Bedeutung, die sich von den allgemeinen Bedeutungen unterscheiden, weil es für mich mehr Sinn macht, sie damit in Verbindung zu bringen, wie sie in meinem Kopf wirken. Die eigenen Definitionen sind total unkorrekt. Sie sind viel weniger real als die Erklärungen in Wörterbüchern- und sie sind konkreter."
"Ich finde einige Aspekte von Sprache viel komplizierter als andere. Abstrakte Begriffe zu verstehen fällt mir vergleichsweise schwer und ich habe für jeden ein Bild in meinem Kopf, das mir hilft,
seine Bedeutung zu entschlüsseln."
"Als Kind fand ich besonders idiomatische Ausdrücke verwirrend. Wenn von jemandem gesagt wurde, er sei „durch den Wind“, fand ich das sehr verwirrend, weil ich mich immer fragte, ob denn nicht jeder
bei entsprechendem Wetter „durch den Wind“ sein müsse."